Kohle und Stahl prägen bis heute das Bild vom Ruhrgebiet. Daran hat der Niedergang der Schwerindustrie kaum etwas geändert. Zum Mythos des Kohlenpotts gehören auch die zahlreichen Ruhrpolen, die mit der Industrialisierung ins Revier kamen und heute als Erfolgsbeispiel für gelungene Integration gelten.
Auch nach Rünthe kamen viele polnischstämmige Migranten, um hier im Bergbau zu arbeiten. Schon am 27. Mai 1906 gründeten sie den katholischen Polenverein „St. Johannes Rünthe“ mit dem Zweck der „Förderung der polnischen Zunge, der guten Sitten, des Geistes der Ordnung unter den Mitgliedern und zum Schutz vor sittlichen Gefahren und Ausschweifungen“. Die Vereinsprotokolle fand man 1981 im Nachlass der Wirtin Maria Rensing. Das traditionsreiche Gasthaus ihrer Familie diente den Polen als Vereinslokal. Zahlenmäßig wurde die Gruppe so stark, dass es der Polenpartei im Jahre 1919 bei der Kommunalwahl gelang, im Gemeinderat einen Sitz zu gewinnen. Das Mandat nahm der polnischstämmige Bergmann Bartholomäus Wrobel wahr. In Rünthe hatten sich auch viele Schlesier und einige Sachsen niedergelassen. Im Adressbuch der Gemeinde von 1914 finden sich außerdem 22 italienische Kanalarbeiter, die wohl nach der Fertigstellung des Datteln-Hamm-Kanals im Ort hängen geblieben waren und sich als Bergleute versuchten. Die Einwohnerschaft in der Zechenkolonie zu Beginn des 20. Jahrhunderts war demnach eine bunte Mischung.
Die polnischstämmige Zuwanderung erreichte 1910 mit ca. 500.000 im Revier lebenden Ruhrpolen ihren Höhepunkt. Entgegen der landläufigen Meinung, dass ihre Integration ein Erfolg war, entstand überall im Ruhrgebiet eine anti-polnische Stimmung, die sich mit einer restriktiven Politik der preußischen Obrigkeit verband. Je größer der Druck wurde, desto mehr rückten die Ruhrpolen zusammen und fokussierten sich auf ihre eigene Kultur. In weiten Teilen des Ruhrgebiets fand eine regelrechte Polonisierung statt, die die Gründung einer eigenen Gewerkschaft, eigener Geschäfte und Banken, einer polnischsprachigen Tageszeitung und vieler Vereine zur Folge hatte. Vermutlich würde man heute von einer Parallelgesellschaft sprechen. Dabei waren die Ruhrpolen, als sie ins Ruhrgebiet einwanderten, schon lange keine Polen mehr, sondern seit der Teilung ihres Staates im Jahre 1795 preußische Staatsbürger. Das vereinfachte einige Jahrzehnte später die massenhafte Abwanderung ins Ruhrgebiet, um den Bedarf an zigtausend Arbeitskräften für den Bergbau zu decken. Davon profitierten auch die Zechen in Bergkamen, Herringen und Werne.
Als nach dem Ersten
Weltkrieg im November 1918 die polnische Republik ausgerufen wurde, kehrte gut ein Drittel der Ruhrpolen in die ursprüngliche Heimat zurück. Ein weiteres Drittel zog in die nordfranzösischen
Bergbaugebiete weiter, und nur ein Drittel blieb überhaupt in den Städten an Emscher, Lippe und Ruhr, um sich dann allerdings vollständig zu assimilieren. In Rünthe endeten 1929 die Aktivitäten
des Polenvereins. Wahrscheinlich hatte die Mehrzahl der Mitglieder zu diesem Zeitpunkt das Revier längst wieder verlassen. Für Bartholomäus Wrobel ist durch alte Ausbürgerungslisten des
preußischen Innenministeriums nachweisbar, dass er Anfang 1925 nach Polen ging. Die Integration war also nicht die Erfolgsstory, an die wir gerne glauben. Erst im Rückblick von heute und durch nostalgische Verklärung gehören die polnischstämmigen Einwanderer zur DNA des Ruhrgebiets.
Tatort-Kommissar Schimanski lässt grüßen!