Rünthe verdankt seinen Aufstieg dem Bergbau. Erst mit dem Entstehen der Zeche Werne zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte sich die kleine
Bauernschaft zu einer prosperierenden Gemeinde entwickeln. Doch der Aufstieg verlief nicht ohne Probleme. In den 1920er Jahren wurde Rünthe von einer Auswanderungswelle
erfasst.
Die Zechenkolonien waren noch keine 20 Jahre alt, als die ersten Familien der jungen Heimat den Rücken kehrten. Im
Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg finden sich alte Passagierlisten der Auswandererschiffe, die den Exodus belegen. Etwas mehr als einhundert Passagiere aus Rünthe machten sich in den
Jahren von 1921 bis 1924 auf den Weg nach Südamerika, um in Brasilien und Argentinien ein neues Leben zu beginnen. Vor allem Rio de Janeiro stand bei den Auswanderern hoch im Kurs. Von dort aus
sollten sich die deutschen Siedler im Süden Brasiliens niederlassen und das Land urbar machen. Nicht die Abenteuerlust führte die Rünther in eine neue Welt, sondern die entbehrungsreichen Jahre
nach dem ersten Weltkrieg, die auch vor der Schwerindustrie im Ruhrgebiet keinen Halt machten. Bis zur Mitte der 1920er Jahre verloren viele Bergleute der Zeche Werne ihren Arbeitsplatz oder
litten unter schlechten Arbeits- und Lohnbedingungen. Die politische Instabilität dieser Zeit und die nachwirkende Erinnerung an den Ruhr-Aufstand von 1920, der auch Rünthe brutal getroffen
hatte, müssen die Hoffnung auf ein besseres Leben in einem fernen Land genährt haben. Viele Gemeinden im östlichen Ruhrgebiet, die Not litten, wurden so von der Auswanderungswelle erfasst. Doch in Rünthe fanden sich besonders viele ausreisewillige Familien. In den Hamburger Passagierlisten sind Namen vermerkt, die auch heute noch im
Ortsteil geläufig sind: Ehlert, Hanke, Kowalski, Kuhnert, Persien, Schwarz, Vieth und Wenzel. Gebürtige Rünther waren in diesen Auswandererfamilien allenfalls die Kinder, während die Erwachsenen
zumeist aus West- und Ostpreußen oder aus Schlesien ins Ruhrgebiet eingewandert waren. Wer sich heute für einen eingefleischten Rünther hält, vergisst zumeist, dass seine Vorfahren erst vor rund
einhundert Jahren in die aufstrebende Gemeinde zwischen Bever und Lippe kamen. Die Auswanderungswelle nach Südamerika ist nahezu vergessen. Sie steht im Schatten der großen Migrationsbewegung in
die Vereinigten Staaten oder nach Kanada, die das Bild vom deutschen Auswanderer prägten.
Von den Eheleuten Albert und Karoline Ehlert, die 1921 von Hamburg aus mit ihren Kindern nach Rio de Janeiro gingen, ist durch genealogische Quellen überliefert, dass sie in der neuen Heimat sesshaft wurden. Sohn Wilhelm heiratete 1937 in Brasilien und starb dort im Jahre 1973. Ob die anderen Auswandererfamilien in der Ferne ihr Glück gefunden haben, ist nicht bekannt. Doch vielleicht finden sich auf manchem Dachboden in Rünthe noch alte Fotos und Briefe der ausgewanderten Verwandtschaft als Zeugnis der Auswanderungswelle zu Beginn der 1920er Jahre.