Alte Adressbücher sind für Familienforscher bei der Suche nach ihren Vorfahren eine willkommene Quelle. Im Verlag von Emil Griebsch, einst das Verlagshaus für den Westfälischen Anzeiger, ist im Jahre 1895 ein Adressbuch für den Kreis Hamm erschienen, dem früher auch die Gemeinde Rünthe angehörte. Die 125 Jahre alte Publikation erlaubt eine spannende Analyse über die kleine Bauernschaft, wenige Jahre vor Gründung der Zeche Werne und dem Bau ihrer Kolonien.
Nur 48 Einträge umfasst das Adressbuch für Rünthe, wobei stets der jeweilige Haushaltsvorstand mit Berufsbezeichnung berücksichtigt wurde. Stadtarchivar Martin Litzinger schreibt in seiner Chronik von insgesamt 270 Einwohnern. Im Ort trugen alle Häuser eine Nummer. Die Auflistung geht nicht über die Hausnummer 39 hinaus, was Aufschluss über die bescheidene Anzahl der Wohnstätten gibt. Mit dem Adressbuch lässt sich außerdem die ursprüngliche Bevölkerung identifizieren, die nicht erst durch den Bergbau in die Ortschaft kam. Allen voran waren die Landwirte für das Dorf prägend: Heinrich Bummann, Friedrich Keinemann, Karl Lippmann, Wilhelm Schulze Bögge, Heinrich Schulze Elberg, Friedrich Schulze Wedeling und Stephan Witte. Kleinere Bauern werden als Kötter aufgeführt, nämlich Heinrich Brandt, Karl Liesegang und Karl Timpeltei.
Im Adressbuch finden sich mit Christian Behrens, Heinrich Evers und Heinrich Schmucker die ersten Hauer in Rünthe. Vermutlich sind sie auf der Zeche Grimberg (Monopol) in Bergkamen angefahren, die für die damaligen Verhältnisse überhaupt erreichbar war. Die Schachtanlagen in Herringen oder Werne waren noch gar nicht abgeteuft. Die Männer können als Vorboten einer epochalen Zeitenwende betrachtet werden, die das Bauerndorf binnen weniger Jahre in die Ära der Bergbauindustrie katapultierte. Ab 1899 gab die Zeche Werne im Ort den Takt an, die bis dahin bäuerliche Struktur verschwand mehr und mehr. Dafür sorgte auch der Verkauf mehrerer Landwirtschaftsbetriebe an den Georgs-Marien-Verein, der als Zechenbetreiber für seine Arbeiter Wohnstätten schaffen musste und ein grundsätzliches Interesse am Ankauf von möglichst viel Land für seine Entwicklung hatte. Die Kapitalkraft der Bergbauindustrie nutzte zunächst die Witwe Anna Witte, die gleich im Jahre 1899 das Gut Haus Rünthe für 130.000 Reichsmark verkaufte. Auf den Ländereien entstand die erste Zechenkolonie in der Gemeinde Rünthe um Hellweg, Schacht,- Glückauf-, Knappen- und Kanalstraße. Im Jahre 1910 folgte Bauer Timpeltei (vormals Bevermann), der seinen Betrieb für 100.000 Reichsmark veräußerte. Auf dem Hof wurde ab 1912 der Schacht III abgeteuft, drei Jahre später begann die Kohleförderung. Der Hof Schulze Bögge (heute Forellenhof) ging 1912 ebenfalls in den Besitz der Zeche Werne über, zwei Jahre später der Großbauer Schulze Wedeling. Auf seinen Ländereien wurde ab 1921 die Kolonie Rünthe-West errichtet. Auch Schulze Elberg erhielt ein verlockendes Angebot der Zechenverwaltung, widerstand aber der Versuchung. Das macht ihn heute zum ältesten noch betriebenen Hof in Rünthe, der durch alte Steuerbücher der Grafschaft Mark aus dem Jahre 1486 bereits als „Schult ter Erberg“ nachweisbar, aber noch viel älter ist. Die Wurzeln der Hofanlage gehen bis auf das Jahr um 1170 zurück und stehen vermutlich im Zusammenhang mit der in der Nachbarschaft befindlichen Wallburganlage, die in Rünthe „Bummannsburg“ genannt wird.
Welche Familiennamen finden sich 125 Jahre nach Erscheinen des Adressbuches von 1895 noch heute im Stadtteil Rünthe? Die Klärung dieser Frage gibt Aufschluss darüber, wer sich im Ortsteil als „Rünther Uradel“ betrachten darf: Behrens, Biermann, Borgschulte, Brandt, Eckmann, Hoffmann, Holtmann, Krieger, Lehmkämper, Liesegang, Meyer, Schmucker und Schulze Elberg. Mögen sich die anderen Einwohner auch als waschechte Rünther fühlen, so bleiben sie doch die Nachfahren von Zugewanderten, die erst der Bergbau nach Rünthe lockte. Zum Trost sei angemerkt, dass sie sich seit Generationen heimisch fühlen und eine tiefe Verbundenheit zur Ortschaft pflegen. Die frühere Ortsvorsteherin Ingrid Osterburg, selbst nach dem Krieg als Flüchtling aus Ostpreußen kommend, bringt das stets auf die griffige Formel: „Aus Rünthe möchte ich nicht mehr weg!“