Dietrich Schwanitz war ein Bestsellerautor, der mit seinen Werken ein Millionenpublikum erreichte. Mit seinem Sachbuch „Bildung. Alles, was man wissen muss“ führte er die SPIEGEL-Bestsellerliste an. Sein bekanntester Roman „Der Campus“ wurde sogar verfilmt. In Werne schmückt man sich gern mit ihm als „Sohn der Stadt“, weil er dort am 23. April 1940 geboren wurde. Das ist nicht falsch, aber trotzdem nur die halbe Wahrheit. Familie Schwanitz lebte in der Gemeinde Rünthe, wo die Eltern Ernst und Margarete an der damaligen Ev. Volksschule als Lehrer arbeiteten, sie bewohnten das frühere Lehrerhaus an der Kreisstraße. Viele Rünther Frauen brachten ihre Kinder in der Nachbarstadt Werne zur Welt, weil sich dort das nächste Krankenhaus befand.
Nach dem Krieg wurde der kleine Dietrich in die Schweiz geschickt, wo er bei mennonitischen Bergbauern lebte. Erst mit elf Jahren kehrte er wieder nach Rünthe zurück, besuchte die Realschule in Werne und machte anschließend am Gymnasium in Kamen sein Abitur. Mit diesen biografischen Daten könnte das Kapitel über Kindheit und Jugend von Dietrich Schwanitz in Rünthe beendet sein. Doch auf der Familiengeschichte liegt ein dunkler Schatten. Vater Ernst Schwanitz war ein glühender Anhänger des Nationalsozialismus, der in seiner braunen SA-Uniform durch die Zechenkolonie marschierte. Gemeinsam mit dem Lehrer Junker und dem Landwirt Keinemann gehörte er zu den führenden Persönlichkeiten der örtlichen NSDAP. Mittels Denunziation sorgte er dafür, dass der Bergmann Franz Magalowski, seit den 1920er Jahren Vorsitzender der „Freien Elternvereinigung Rünthe“, ins Gefängnis kam.
Der Vorgang wird durch alte Zeitungsberichte in der Dortmunder Zeitung vom 6. Mai 1933 und der Werner Zeitung vom 7. Mai 1933 belegt. Die Artikel berichten vom Prozess am Schöffengericht in Dortmund, dem sich Magalowski wegen Verleumdung stellen musste. Ausgangspunkt für das Strafverfahren war eine Anzeige, die der Lehrer Ernst Schwanitz gestellt hatte. Vorangegangen war ein jahrelanger Streit um die Einführung einer weltlichen Schule, Forderung der linken Arbeiterbewegung in vielen Städten des Ruhrgebiets, wo sich zu deren Durchsetzung sogenannte „Freie Elternvereinigungen“ gebildet hatten. In Rünthe wurde 1930 eine bekenntnisfreie Schule eingerichtet und drei Jahre später durch die Nazis wieder geschlossen. Magalowski hatte zu Beginn des Jahres 1933 ein Flugblatt an „alle proletarischen Eltern in der Gemeinde Rünthe“ gerichtet, um sie zur Anmeldung ihrer Kinder an der weltlichen Schule zu bewegen. Schwanitz fühlte sich dadurch verleumdet und beleidigt.
Die Verhandlung vor dem Schöffengericht in Dortmund trug den Charakter eines Schauprozesses. An Magalowski, der auch dem Vorstand des Rünther Fußballvereins angehörte, sollte ein Exempel statuiert werden, um die rote Arbeiterhochburg zu warnen. Ernst Schwanitz als Zeuge der Anklage präsentierte sich vor Gericht als loyaler Anhänger der NSDAP. Im Bericht der Dortmunder Zeitung heißt es: „Der in dem Flugblatt so übel herabgewürdigte Lehrer Schwanitz sagte aus, dass Anfang Januar in Rünthe 600 Marxisten etwa 15 nationalsozialistische Flugblattverteiler überfallen hätten. Gegen diesen gemeinen Überfall hätten die Nationalsozialisten einige Tage später eine Kundgebung und einen Werbemarsch veranstaltet, um zu zeigen, dass es Volksgenossen gebe, die unerschrocken den Kampf gegen den Marxismus und Bolschewismus aufnehmen. Als langjähriger Kämpfer in der NSDAP habe er daher an diesem Umzug teilgenommen. Sechs Jahre lang habe er schon die übelsten Angriffe von Seiten der weltlichen Schule über sich ergehen lassen müssen. Verschiedentlich sei er bei der Arnsberger Regierung angezeigt worden, alles nur, weil er entschlossen sich vor die von ihm betreute christliche Schule im Geiste Adolf Hitlers gestellt habe.“ Der Prozess endete für Magalowski mit einer zweimonatigen Haftstrafe, die er im Gefängnis in Dortmund absitzen musste. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass die Nazis die Bekenntnisschulen später selbst abschafften: Hakenkreuz statt Kruzifix.
Ernst Schwanitz war ein gebildeter Mann und hätte das wissen müssen. Seine erratische Persönlichkeit ließ ihn nur kurze Zeit später selbst zum Opfer des Regimes werden, weil er sich als Stützpunktleiter der NSDAP in Rünthe mit den anderen führenden Köpfen der Partei anlegte und zahlreiche Intrigen gegen die eigenen Parteigenossen initiierte, etwa gegen den Lehrer Junker, den er der sexuellen Belästigung einer Schülerin bezichtigte. Am 12. Mai 1933 wurde Ernst Schwanitz verhaftet und im KZ Schönhausen interniert, vier Tage später folgte seine Verlegung in das Gefängnis nach Hamm. Weil er bereits 1932 stationär im Sanatorium Rasemühle (Niedersachen) behandelt wurde, ließen ihn die Nazis amtsärztlich auf seine Zurechnungsfähigkeit untersuchen. Das Verfahren gegen ihn gipfelte im Vorwurf der Sabotage der nationalsozialistischen Bewegung. Schwanitz reagierte darauf mit der Drohung, er werde in Rünthe „aufräumen“. Eine umfangreiche Akte der politischen Polizei über Ernst Schwanitz befindet sich im Kreisarchiv Unna und im Landesarchiv in Münster.
Dietrich Schwanitz sind die braunen Umtriebe seines Vaters nicht anzulasten. Zum Zeitpunkt der Ereignisse in Rünthe war er nicht einmal geboren.
Wohl aber könnten sie eine Erklärung für seinen späteren Lebensweg und den Einfluss auf seine Persönlichkeit und sein Schaffenswerk liefern. Befragen kann man ihn dazu nicht mehr. Er starb 2004
in Hartheim am Rhein.